Eins

Hannover ist keine so richtig schöne Stadt. Das ist der Preis, wenn man im Krieg zu den Idioten gehörte, die ihre Klappe viel zu weit aufgerissen haben und dafür berechtigterweise einmal komplett von der Erdoberfläche gebombt wurden. Danach wusste halt niemand so genau, wo die vielen Menschen hin sollten, die den Mist überlebt hatten. Das wurde dann eben nicht schön gebaut, sondern eher so praktisch. Ich blicke die praktischerweise sehr breite Straße in Richtung stadtauswärts und warte auf die Straßenbahn. Es ist unheimlich. Nicht weil Hannover ein wenig hässlich ist, sondern weil irgendetwas faul ist. Das ist jetzt bereits seit einigen Wochen so. Irgendetwas stimmt nicht mit der Welt. Es ist ungewöhnlich heiß für einen Oktober, die Pole schmelzen wohl schneller denn je und man verbrennt sich auch schneller die Haut. Die Menschen sind nervös. Hamsterkäufe. Kriminalität. Naturschützer und Umweltschützer laufen mit dem Hab-ich-doch-gesagt-Gesicht durch die Gegend und zeigen mit dem Finger auf alles, was nicht bei Drei nachhaltig auf einem Baum sitzt. Im Fernsehen streiten sich die Experten darum, wer denn jetzt wirklich ein Experte sei und ob das Ende nun nah, beinah oder noch was hin ist.

Falls mich jemand nach meiner persönlichen Einschätzung der Lage fragt: Zombie-Apokalypse. Das ist natürlich bloß ein Scherz. Mal ehrlich: Ich stehe hier auf einem Bahnsteig in Hannover-Vahrenwald und wären wirklich Zombies auferstanden und unterwegs, würde ich es hier wohl als letztes bewusst bemerken. Menschen schlurfen zur Bahn, zum Kiosk, zum Bäcker. Sie stöhnen und grunzen. Ich bin auch zur Bahn geschlurft und ganz sicher habe auch ich mindestens einmal dabei laut gestöhnt. Weil es scheiße heiß ist für einen Oktober. Aber das erwähnte ich ja bereits. Als Zombie-Nerd wünscht man sich halt insgeheim, dass, wenn die Welt schon am Scheidepunkt ihrer Existenz angelangt ist, es wenigstens eine Zombie-Epidemie sein würde. Das ist bekanntes Terrain und wir bilden uns ein, mit einer solchen Extremsituation natürlich locker klarzukommen. Immerhin haben wir das alles schon zig mal beobachtet und auf PC und Konsole geübt. Die B-Movies und die Survival-Horror-Spiele sind plötzlich Lehrfilme. Max Brooks erklärt uns in seinen Büchern den Rest. Den Kram, den Romero uns die ganze Zeit über verheimlicht hat. Keine 30 Minuten würde es dauern, bis die perfekte Illusion zerrissen wäre, wie unsere Arterie zwischen den fauligen, braunen Zähnen eines Untoten, den wir dummerweise im Schlafzimmerschrank, in einer öffentlichen Toilette oder unter einem Berg Müll übersehen haben. Ende. Aus. Noch bevor es überhaupt richtig losgegangen wäre.

In Hannover Vahrenwald musste man früher nie Angst haben. Jetzt ist das anders. Einige der Zombies in meiner Nachbarschaft haben den leeren Blick (an dem auch ich so beharrlich festhalte) gegen kritisches Beäugen getauscht. In diesem Moment beäugen mich auch wieder drei, vier Augenpaare, während ich mit leerem Blick stadtauswärts gerichtet auf die Bahn warte. Ich fühle mich, wie so oft in den letzten Tagen, beobachtet. Und verfolgt. Ja, sogar bedroht. Heute morgen traf ich deswegen die schwierige Entscheidung, etwas für meine Verteidigung zu tun und ich bilde mir jetzt ein, dass es eine gute Entscheidung war. Jedes Anzeichen einer aufkeimenden Vermutung, dass an dem Menschen, den ich zu diesem Zweck gleich treffen werde und der sich online „BraunerBär88“ nennt, irgendetwas suspekt sein könnte, ersticke ich im Rausch meiner freien Nase erfolgreich im Keim.


In einem Büro, das irgendwie nach IT aussieht klingelt ein Telefon auf einem sehr aufgeräumten Schreibtisch. Der dazugehörige Schreibtisch-Stuhl ist unbesetzt und steht ordentlich unter den Tisch geschoben da. Im Nebenzimmer verendet knarzend aber verdient der Rest dessen, was einmal „Risin' High“ von den H-Blockx war, bevor ein billiger Aktivlautsprecher es aufs gröbste verstümmelt hat. An der Wand hängt ein Poster mit einem Raumschiff aus irgendeiner Science-Fiction-Serie drauf. Den unzähligen Löchern nach zu urteilen, die rund um die Reißzwecken zu erkennen sind, wurde es bereits einige Male umgehängt. Daneben klebt, mit vier Streifen eines durchsichtigen Klebebands eher so unschön befestigt, ein Urlaubsplaner. Die aktuelle Woche ist mit rotem Filzmarker und dem Hinweis auf irgendein Science-Fiction-Event markiert.

Das Telefon verstummt. Nur um nach ein paar Sekunden wieder mit dem Klingeln anzufangen.

Es geht immer noch niemand ran.


Mit seinen schwarz getönten Haaren und dem ebenfalls schwarz getönten Schnurrbart wirkt „BraunerBär88“ wie die Sechziger-Jahre-Technicolor Version von Omar Sharif. Ich schätze ihn auf Anfang Fünfzig und tue ihm damit einen Gefallen. Er trägt einen Armee-Anorak und eine Tarnhose. In seiner linken Hand hält er eine Umhängetasche, in der rechten eine verspiegelte Sonnenbrille. Wir sitzen auf einer Holzbank und ich starre auf Namen, die mit einem spitzen Gegenstand in das Holz eben dieser Bank geritzt wurden. Dort steht „Niko liebt Chantal“. Chantal ist durchgeritzt und darunter steht „Jolante“. Jolante ist durchgeritzt und darunter steht wieder „Chantal“. Durchgeritzt. An einer anderen Stelle der Bank steht „Chantal liebt“. Wen oder was Chantal da liebt, wird von Omar Sharifs Gesäß verdeckt. Verdammt. Ich blicke vorsichtig nach oben, mitten in sein ungläubiges Gesicht. Ertappt schaue ich schnell nach vorne auf den Spielplatz. Gut ein halbes Dutzend kleiner Kinder spielt an Klettergerüsten, in Sandkästen und auf sich drehenden Geräten, während Eltern besorgt in wenigen Metern Entfernung Wache schieben. Die Kinder teilen die Besorgnis der Eltern nicht. Sie schreien, rennen, klettern, spielen, schreien und sie schreien.

„600“, sagt Omar Sharif neben mir auf der Bank.

„Euro?“ erwidere ich schockiert und blicke unsicher. Er starrt mich an. Aber er nickt nicht.

„Nein. Sesterzen.“, dann schüttelt er ungläubig den Kopf, „Natürlich Euro, Mann!“

Wir blicken wieder geradeaus, auf den Spielplatz. Wir schweigen. Mein Blick fällt auf einen kleinen Junge, der einem Mädchen etwa gleichen Alters im Sandkasten gegenüber sitzt und zuschaut, wie diese mit einer Schaufel kleine Sandförmchen füllt. Sie serviert einem imaginären Gast vier sandige Kuchen und schaut zufrieden auf das Ergebnis.

600 Euro, denke ich bei mir.

Der Junge starrt erst die Törtchen an, dann das Mädchen, dann wieder die Törtchen, das Mädchen, den eigenen Vater, das Mädchen. Mit einem Ruck entreißt er ihr plötzlich die Schaufel und haut sie ihr mehrmals im Takt immer wieder auf den Kopf, während er wie ein Besessener dabei lacht. Die Kleine scheint das zwar zu verunsichern, nicht aber wehzutun. Wir starren beide weiter auf den Jungen, die Schaufel und auf das verdutzte Mädchen, sagen aber nichts.

600 Euro ist viel Geld, denke ich.

Der Vater des Jungen, der neben uns auf einer anderen Bank sitzt und einen Soja-Latte im Starbucks Becher to-go trinkt, erhebt sich zügig und nähert sich stürmisch der beunruhigenden Szene im Sandkasten. Sein Kaffee kommt ihm dabei abhanden und verteilt sich zwischen den bereits fertigen Sandkuchen des Mädchens. Er ermahnt den Sohn mit sanfter, wenig autoritärer Stimme und bittet ihn, die Schaufel wieder zurückzugeben. Der gehorcht widerwillig, reicht das Werkzeug der Kleinen und setzt seine verbittertste Mine auf.

Sie zögert kurz, greift dann aber zu. Mit der Schaufel in der Hand schaut sie den Jungen unsicher an und scheint die neue Situation zu analysieren. Dann schlägt sie ihm das Spielzeug mit aller Kraft mitten in das verbitterte Gesicht.

„Angriff ist eben doch die beste Verteidigung!“ Omar Sharif grinst zufrieden und spricht mit lauter Stimme, um vom Geschrei des überraschend stark blutenden Jungen nicht übertönt zu werden. „600 Euro.“

Ich zucke zusammen, als ich von der Szene im Sandkasten ablasse. „Ich … äh. Ich weiß gar nicht, ob ich das … kann. Das Teil benutzen, meine ich“, stottere ich.

Omar Sharif schließt die Augen und holt tief Luft. „Junge!“, sagt er, sich selbst beruhigend, „Wenn es hart auf hart kommt und dir so eine Zecke mit einem Messer an die Kehle will, dann heißt es eben du oder die Zecke. Und wer will da schon die Zecke sein?“

Ich blicke kurz vor mir auf den Spielplatz ins Leere. Nein, die Zecke hat mich nicht überzeugt. Eher das Gegenteil. Ich versuche sicheren Boden in der Unterhaltung zu finden, während ich gefühlt am kleinen Finger über einem Abgrund hänge. „Kann ich das Ding denn einfach so benutzen? Könnte … könnte ich es vielleicht vorher ausprobieren?“, stottere ich.

„Klar, gleich hier“, antwortet Omar Sharif, ohne seinen Blick vom Sandkasten abzuwenden. „Am besten an dem plärrenden Quälgeist dort drüben“. Er nickt in Richtung des blutenden Jungen, dessen Vater ungeschickt Erste Hilfe mit einer Starbucks Serviette leistet.

Dann greift er in seine Umhängetasche und legt mir eine Plastiktüte in den Schoß. Ich erschrecke ob ihres Gewichts und starre an mir herunter als läge dort ein toter Hund.

„Fünfzig Schuss Munition gibts umsonst dazu. Keine Nummer, keine Registrierung. Direkt aus der Fabrik. Entwendet vor dem ganzen Kram. 600 Euro und dein Leben liegt wieder in deinen Händen, Mann.“ Er blickt zu mir rüber. „Ja oder Nein? Ich habe noch eine Verabredung mit den Zecken. Da geht es um weit mehr als um einen mickrigen Revolver. Also los jetzt.“

Ich schlucke. Die Zecken bewaffnen sich also auch, denke ich bei mir und frage mich, wer oder was diese Zecken wohl sind? Ich hole tief Luft. „Ich habe 472 Euro und 30 Cent“, sage ich kleinlaut und blicke vorsichtig zu ihm rüber. Ich erkenne eine Mischung aus Unglauben und Kopfschütteln in seinem Gesicht, während er mich verächtlich anschaut und tief seufzt.

Mit 30 Cent, fünf Patronen und einem Revolver der Marke Heckler und Koch in der Tasche, steige ich wieder in die Bahn stadteinwärts.


In einem schlecht beleuchteten Raum, der irgendwie nach IT aussieht und dessen Fenster mit Vorhängen und Rollos zugezogen sind, sitzen sich zwei Mitarbeiter an zwei mit dem Rückwänden aneinander geschobenen Schreibtischen gegenüber. An den mit Monitoren und Computern übersäten Wänden ringen blinkende Zeichen und Ziffern hektisch und monochrom um Aufmerksamkeit. Der ältere der beiden Mitarbeiter kaut, vertieft in einen seiner Bildschirme, an einem Krapfen, wobei er unachtsam etwas von der fruchtigen Füllung auf sein kariertes Hemd kleckert. Entweder bemerkt er dies nicht oder es ist ihm egal. Der jüngere, sehr hagere Kollege trägt kurzes, lockiges Haar und ein T-Shirt, auf dem ein Internet Meme mit einem Panda, einer niedlichen Katze und einem besoffenen Tapir in so etwas wie einer Bar, aufgedruckt ist. Er nickt im Takt undefinierbarer Musik, die sich knarzend aus den Aktivboxen seines Computers quält. Mit viel Fantasie könnte es „Sweet Dreams“ von Eurythmics sein. Oder was von Rage Against The Machine. Er verschiebt, beinahe zum Takt der Musik, Dinge mit dem Mauszeiger auf dem Bildschirm, als er plötzlich in der Bewegung verharrt.

Das Klicken der Maus verstummt.

Der Zeiger auf dem Monitor ruht über einer Videodatei mit dem Namen „Nobunaga Container Osaka“.

Er stutzt. Normalerweise befanden sich in dieser dunklen, fast schon verwaisten Ecke des Firmennetzwerks lediglich Musik- und Film-Dateien, die er selbst, geschickt an seinem Chefadministrator vorbei, aus dem Netz heruntergeladen hatte. Nobu-irgendwas-Container hieß sicher keine davon.

Er wählt die Datei mit einem Doppelklick an, woraufhin sich lediglich ein schwarzes Fenster öffnet. Sonst passiert in dem Fenster nichts. Etwas verwirrt blickt er über den Rand seines Monitors zu dem mit Marmelade verschmierten älteren Kollegen hinüber. „Äh. Sagt dir der Name Nobunaga irgendetwas?“

Der Ältere tippt offensichtlich an einem längeren Text und schüttelt abwesend den Kopf, ohne vom Bildschirm hochzuschauen.

„Nobunaga Container?“

Wieder schüttelt sich der andere Kopf abwesend.

„Deine Mutter?“

Kopfschütteln. Abwesend.

Genervt blickt er zurück auf den Monitor, zuckt dann mit den Schultern und löscht mit einer magisch anmutenden Handbewegung die fragwürdige Datei. Sicher ist sicher, denkt er bei sich. Schließlich sollte man seine Nase besser nicht in Angelegenheiten stecken, die einen vielleicht nichts angehen.

An einem Ende des Büros führt ein Gang einige Meter zu einem Fahrstuhl, der die einzige Verbindung zu den anderen Etagen zu sein scheint. Ein wunderschön altmodisches Klingeln kündigt in diesem Moment das Ankommen der Fahrstuhlkabine an. Beide Kollegen greifen in harmonisch synchronisierter Bewegung zu ihren Smartphones, wundern sich beim Anblick der leeren Bildschirme und blicken daraufhin erstaunt zur Fahrstuhltür. Offensichtlich kommt es nicht besonders oft vor, dass sich jemand in diese Abteilung verirrt.

Die Tür öffnet sich langsam und eine Person tritt heraus. Ein hochgewachsener, älterer, glatzköpfiger Mann blickt die beiden Männer streng an. Über seiner Schulter hängt so etwas wie ein schwarzer Seesack, an seiner ebenfalls schwarzen Cargo-Hose trägt er ein ziemlich großes Kampfmesser und in der linken Hand hält er, auf Kopfhöhe, eine schallgedämpfte Pistole. Der Lauf ist nach oben gerichtet. Er schaut grimmig drein und blickt sich im Raum um.

Die beiden Kollegen schauen erst sich und dann den Glatzköpfigen erstaunt und auch etwas ratlos an. Noch bevor einer von ihnen dieses Erstaunen in Worte fassen und zu Tage befördern kann, zerreißt ein seltsam dumpfes Geräusch zweimal die so plötzlich eingetretene Stille. Der jüngere Mann blickt auf die Stirn seines Kollegen und wundert sich dort über ein kleines schwarzes Loch mit rotem Rand, aus dem etwas Blut rinnt, bevor er an dem in seiner eigenen Stirn stirbt. Beide sacken in sich zusammen und hängen leblos auf ihren Bürostühlen.

Der Schütze blickt gefasst auf die beiden regungslosen Körper, senkt den Kopf etwas zur Seite und analysiert kühl die Lage. Sein Blick gleitet durch den Raum. Es scheint, als suche er etwas. Dann fängt er an, Notebooks, externe Festplatten und die beiden Smartphones der Toten in den schwarzen Seesack zu stopfen. Mit dem prall gefüllten Sack über seiner Schulter sucht er weiter jede Ecke des Raumes ab, als ihn plötzlich ein Geräusch erstarren lässt. Anstatt aufzuschrecken und nachzusehen, presst er bloß ein bisschen genervt die Lippen zusammen, wirft einen prüfenden Blick auf seine Waffe, dreht dann den Kopf nach links und blickt in das blasse Gesicht eines dritten Mitarbeiters, der mit einem Mandel-Marzipan-Hörnchen in der Hand in einer Tür zu einem Nebenraum steht.

Der Glatzköpfige lächelt falsch. Beide bewegen sich nicht. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Irgendwo surrt ein elektronisches Gerät und piept dann. Das Telefon im Nebenraum beginnt zu läuten. Niemand geht ran.

Der Mitarbeiter schluckt ein Stück Hörnchen herunter, welches er bereits beim Betreten des Raumes abgebissen hatte.

Das seltsame, dumpfe Geräusch ertönt ein drittes Mal.


Es ist richtig scheiße heiß in der Straßenbahn. Durch die Fenster wirft die erstaunlich tief hängende Sonne ihr bedrohliches Licht, das wie Geister an mir und den anderen Fahrgästen vorbei huscht. Ich habe bei drei Personen in einem Viererblock Platz genommen. Ich traue zwar auch in der Bahn keiner Seele weiter als eine Sitzlänge über den Weg, aber ich bin müde und außerdem stinkfaul. Vor mir sitzen zwei dickere Männer, der linke bekleidet mit einem weinroten Pullunder und einer beigen Hose, der rechte mit einem langen T-Shirt mit Tupac Shakur, Biggie Smalls oder was weiß ich welchem toten Rapper drauf. Ich senke den Kopf etwas zur Seite und kneife die Augen zusammen. Es könnte auch Tony Montana sein. Jeder von ihnen trägt Marken-Kopfhörer eines Multimillionärs aus Compton, South Central, aus denen sehr laute Musik tönt. Unterschiedliche Musik. Sie summiert sich zu rauschendem, lauten Krach. Sie unterhalten sich trotzdem. Nur lauter. Tony Montana redet fast ununterbrochen auf den Pullunder ein und beendet dabei jeden Satz aufs neue mit der bezeichnenden Wortschöpfung „Weißtischmein“, die einen grenzdebilen Verstand vermuten lässt.

„… da hab ich ihr gesagt: nee, Nutte, hab ich ihr gesagt, weißtischmein?“

„Weiß isch, mann, weißtischmein?!“, sagt oder fragt der Pullunder.

Waldmeisterschwein, denke ich bei mir und wundere mich, womit diese Leute ihre Kappen an den Haaren befestigen, die augenscheinlich ja nur aufgelegt sind. Dann fällt mir ein, dass ich gar nicht blöd genug bin, um das wissen zu wollen. Ich höre ihnen unfreiwillig weiter zu, verstehe aber keinen zusammenhängenden Satz. Der Pullunder wohl schon. Schwört er. Dabei nickt er die ganze Zeit über total bescheuert mit dem Kopf. Ich meine jedesmal ein leises Tock! von der haselnussgroßen Murmel hinter seiner Stirn zu vernehmen.

Ich werde von dem Krach des Gesprächs und der lauten Musik merklich nervös. Und von der sehr schweren Pistole in meiner Parka-Tasche auch. Ich ertaste sie ständig von außen und stelle immer wieder erleichtert fest, dass sie noch da ist. Nicht weil ich mich dann wie erhofft sicherer fühle, sondern weil es mir unendlich peinlich wäre, wenn die Pistole aus meiner Tasche fallen und plötzlich neben mir auf dem Sitz liegen würde. Jedesmal, wenn die Bahn stärker ruckelt, weil sie über eine größere Schweißnaht oder eine Weiche fährt, knallt der Revolver in meiner Tasche seitlich gegen den Plastiksitz und erzeugt ein lautes Geräusch. Jedesmal zucke ich zusammen. Der russische Schriftsteller Anton Tschechow hat mal gesagt, dass eine Waffe, die im ersten Akt einer Geschichte eingeführt wird, im letzten Akt abgefeuert werden muss. Ich hoffe inständig, dass wenn ich diese Waffe wirklich abfeuern muss, es eben nicht mein letzter Akt ist. Viel inständiger hoffe ich allerdings, dass sie gar nicht abgefeuert wird.

Ich blicke vorsichtig und aus dem Augenwinkel heraus neben mich. Dort sitzt eine Frau, die ich auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig schätze. Wahrscheinlich liege ich damit total daneben, denke ich beim Anblick eines Spandau Ballet-Aufnähers am Ärmel ihrer Jeansjacke. Sie trägt einen blauen Rock und schwarze, grobmaschige Strumpfhosen. Die Arme verschränkt, schaut sie aus dem Fenster.

Das Licht von draußen taucht das Innere des Wagens in ein schauriges Rot. Ich frage mich, ob ich mir das nur einbilde oder ob es in den letzten Minuten wirklich noch ein Stück wärmer geworden ist. Ich öffne die obersten Knöpfe meines Parkas.

Tony Montana überschlägt sich jetzt fast und spuckt beim Reden aus Versehen auf meine Hose und die Strümpfe meiner Sitznachbarin. Ich bin angewidert, halte mich aber zurück. Sie nicht.

Tony mustert die Frau geringschätzend und lässt dann einen ziemlich dummen Kommentar ab. Ich muss an die Murmel denken.

Mit geballten Fäusten, links und rechts von ihrer Taille, springt sie auf und schreit ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Irgendwas mit kleinen Schwänzen, Dosenbrot und seiner Mutter. Ich sehe erstmals ihr Gesicht. Es ist das wutentbrannte Gesicht jahrzehntelanger Alltags-Diskriminierung, bilde ich mir ein. Ich starre sie an. Sie ist irgendwie auch sehr attraktiv, was sicherlich keine Einbildung ist.

Montana explodiert. Ich schätze, dieser eine Teil mit der Mutter hat ihm nicht gefallen und ihn letztendlich dazu bewegt, der Frau mit der flachen Hand in ihr überraschtes Gesicht zu schlagen. Eine Bauchfalte lässt den Tony Montana auf Tony Montanas T-Shirt aussehen, als schließe er beschämt die Augen.

Vor Schreck halte ich mir die eigene Wange.

Die roten Strahlen der Sonne blenden mich. Die Bahn quietscht schrill und gequält beim Anfahren der Haltestelle. Es ist heiß. Und totenstill. Niemand bewegt sich. Keiner im Wagon sagt etwas. Alle starren … mich an.

Verwundert blicke ich in die Gesichter der anderen Fahrgäste und in das der soeben geschlagenen Frau. Sie blickt erschrocken auf meine Hand. Zu meiner eigenen Verwunderung halte ich dort, fest umklammert und mit ausgestrecktem Arm, den Revolver, der ziemlich genau auf den nun sehr ängstlich dreinschauenden Tony Montana zeigt.

Die Stille ist erdrückend. Die Hitze auch. Das rote Licht färbt die Szenerie bizarr ein. Die Türen der Bahn öffnen sich und bevor sich irgendwer traut irgendetwas zu bewegen, greift sie meinen Arm und zerrt mich mit ihr zusammen hinaus ins Freie. Ich blicke durch die Fenster zurück in das Wageninnere und in die Gesichter der Fahrgäste, als wir auf dem Bahnsteig abrupt zum Stehen kommen. Meine Schulter rammt sich ihr grob in den Rücken. Ich überlege mich zu entschuldigen, aber sie hat es offenbar gar nicht bemerkt. Sie starrt in die Wolken und ich tue es ihr verwundert gleich. Erst jetzt bemerke ich, dass das rote Licht um uns herum gar nicht die Sonne ist, sondern ein über alle Maßen bedrohlich wirkendes … Ding. Ein gigantischer Feuerball, der dort oben lodernd über uns allen am Himmel hängt.

Krass, denke ich.

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