Goodbye, My Love

Nennt mich Ishmael, wenn es euch Freude bereitet.

Ich bin nervös. Man könnte sagen, die Nervosität der letzten Stunden hat ihren Höhepunkt oder besser: den absoluten Siedepunkt erreicht. Würde ich jetzt meine Hand ausstrecken, würde sie zittern und alle wüssten sofort Bescheid. Bescheuert. Natürlich wissen sie es auch so. Schließlich wird das Zeug genau hier ausgegeben. Ein kalter, grauer Raum. Die Sonne scheint durch ein Fenster an der Decke und spendet nur Staub und kein Licht. Wie kleine Einzeller in der Ursuppe schweben Millionen kleine Teilchen um mich herum. Es stinkt nach Desinfektion und Kamille. Damit habe ich es auch versucht. Ernsthaft versucht. Kamille, Pfefferminz, scharfer Senf, heiß geduscht, kalt geduscht, gar nicht geduscht. Einmal habe ich sogar den Herd angemacht, nur um nach einer halben Stunde mein Gesicht in den heißen Strom der erhitzen Luft zu halten, die beim Öffnen des Ofens herausströmt. Nichts hat geholfen. Gar nichts. Jetzt stehe ich wieder hier. Und sie steht wieder vor mir. In ihrem weißen, gebügelten Kittel und mit ihrem kerzengerade geschnittenen Pony. Ihre Augen und ihr einer Mundwinkel sprechen Bände: Er hat es wieder nicht geschafft. Der Verlierer! Ich lasse mich von ihrem Blick aber nicht unterkriegen. Nee. Ich gucke sie mit der gewaltigsten Leere an, die mein Blick ihr vorzugaukeln vermag. Das kann er, mein Blick. Müsste ich in einem Fragebogen, zum Beispiel beim Beantragen eines neuen Personalausweises, meine Superkraft angeben, ich würde dort hinschreiben wie super gut ich leer geradeaus starren kann. Das mag jetzt nicht so großartig super klingen, wie etwa fliegen, Laseraugen oder Unsterblichkeit, aber es hilft einem trotzdem ganz ungemein in allen möglichen Alltagssituationen. Wer hat Zeit mir Samstag beim Umzug zu helfen? Leerer Blick. Wer ist heute dran mit Brötchen holen? Leerer Blick. Wer hat auf der Toilette im zweiten Stock geraucht und die Kippe danach ins Klo geworfen? Leerer Blick, vorsichtshalber aus dem Fenster gerichtet. Wer ist nach einer Woche wieder da und holt sich seine Droge ab? Leerer Blick. Meine Armbeugen kribbeln. Verlierer, denkt sie. Das sehe ich genau. Aber sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an. Mit einem leeren Blick. Pures Kryptonit. Venom. Irgendwas gelbes. Wie Superheld und Superschurke stehen wir uns gegenüber und auf halbem Wege treffen sich unsere identisch starken Superkräfte. Ein Duell, anstrengender als ein Marathon. Ich kämpfe. Sie kämpft. Keiner gibt auf. Jetzt müsste ein Monolog kommen. Ein in die Höhe gestreckter Arm mit geballter Faust und eine donnernde Stimme, die großspurig den Untergang des anderen ankündigt. Mir fällt aber kein weiterer Monolog ein. Ich führe ja schon einen. Und ehrlich gesagt will ich auch gar nichts zu ihr sagen. Sie aber schon. Sie fast sich kurz:

„Das Nasenspray bitte nicht länger als eine Woche einnehmen.“

Leerer Blick.

„Möchten Sie noch die aktuelle Apotheken-Rundschau dazu?“

Verdammt, denke ich. „Danke, nein“, sage ich.

„Traubenzucker?“

Ich liebe Traubenzucker. „Nein danke!“ Was!? Ich brauche das verdammte Spray, Mädchen!

Ihr Blick verrät, dass sie meine Nervosität erkannt hat. Eben noch Clark Kent, jetzt Peter Parker. Die erste Regel im Superhelden Club: Geweint wird zuhause! Ich hab's versaut.

„Ich habe hier ein Spray mit Meersalz-Lösung. Das schont die Schleimhäute und kann längerfristig angewandt werden. Möchten Sie, dass ich Ihnen eine Probe davon mitgebe?“

Genüsslich kostet sie ihren Triumph über mich aus, dreht die Klinge in meinem Körper immer und immer wieder um die eigene Achse. Ausgerechnet mit dem Methadon-Programm. Guter Versuch, aber in der Liga spiele ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ich lache innerlich. Ha, ha! Ich greife mir die Packung mit dem Spray, murmele „bis nächste Woche“ und richte meinen leeren Blick in Richtung der Tür. Ich halte kurz inne. Irgendwas war noch. Ba-Damm! Vielleicht dieses asiatische Balsam, bei dem man nicht weiß, ob es sich heiß oder kalt anfühlt? Ba-Damm! Meine Nasenschleimhaut pocht wie die Schritte eines fetten Dinosauriers. Ba-Damm! Raus hier!

Draußen blendet mich die Sonne derart stark, dass ich das Gefühl habe zu erblinden. Es riecht nach Döner-Fleisch und Soße. Autos hupen. Ich ignoriere den Geruch und den Lärm und atme tief durch den Mund ein. Dann reiße ich die Kartonverpackung des Nasensprays auf, gebe ihr einen Ruck nach oben, fange elegant das herausfliegende Fläschchen auf, entferne die Plastikkappe mit den Zähnen, spucke sie achtlos auf die Straße, schieße eine Ladung des kostbaren Medikaments vor mir in die Luft und verpasse mir danach zweimal je eine Dröhnung. Linkes Nasenloch, rechtes Nasenloch. Weltfrieden in meinem Hals-Nasen-Ohren-Trakt. Herrlich.

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