Klimax

Meine Nase ist zu, ich bin voll mit Kotze und Blut und irgendwo kleben sicherlich auch menschliche Überresten an mir. Ich habe eine Kugel im Bein und irgendwie glaube ich, ich habe mir was gebrochen. Irgendwas. Bestimmt! Außerdem merke ich, das ich so richtig müde werde. Das rote Licht taucht den Platz in ein merkwürdig anmutendes Bild. Ich atme schwer. Meine linke Hand ist zu einer Faust geballt, in meiner rechten halte ich ihre Hand. Der Glatzköpfige steht uns mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung im Gesicht, einige Meter entfernt, gegenüber. Zwischen uns wehen Zeitungen, Blätter und Müll durch die Luft. Überall schreien Menschen und in der Ferne donnern Explosionen, die uns regelmäßig zusammenzucken lassen. Ich merke, wie mein Hass dem Glatzköpfigen gegenüber meine Furcht vor ihm übersteigt.

Er schreit irgendwas sehr laut, aber ich verstehe nicht was. Die Schusswunde in meinem Oberschenkel meldet sich mit einem pochenden Schmerz. Ich ächze schwer und sacke etwas in mich zusammen. Dann schreie ich meine gesamte Wut aus mir heraus. „FICK DICH!“ Ich kämpfe mit den Tränen. Sie gewinnen. „Fuck!“. Mit zusammengepressten Lippen nehme ich alle Kraft zusammen. Dann schreie ich nochmal sehr laut „FICK DICH!“. Es tut gut, aber nicht so gut, wie ich gehofft habe.

Ihr Griff wird plötzlich stärker und mein Arm tut kurzzeitig mehr weh, als das angeschossene Bein. Dann sinke ich hinunter auf den Boden und komme auf meinen Knien zur Ruhe.

Der Glatzköpfige blickt mich analysierend an und streckt die Hand aus, die nicht mit einer Pistole auf mich zielt. „Das Telefon!“, sagt er und winkt mich mit der Hand zu sich.

Wir blicken uns an.

Er hebt die Waffe und zielt jetzt offenbar genauer auf meinen Kopf. „WO IST DAS TELEFON?“

Telefon!? Ich verstehe die Welt nicht mehr und für einen kurzen Moment wechselt meine Stimmung in völlig verwirrten Unglauben. „WELCHES VERFICKTE TELEFON, DU WICHSER!?“, schreie ich ihn an und meine Stimme verformt sich dabei zu einem Kreischen, während sich meine Spucke vor mir in der Luft verteilt. Ein Telefon!? Ein verficktes Telefon!?

Ihr Griff an meiner Seite wird stärker.

„Au!“, sage ich und blicke sie fassungslos an.

Sie schaut mir fest in die Augen, während ihr ein Licht aufgeht.

Ich stocke und halte den Atem an, als auch mir eins aufgeht. Das Telefon des Nachbarn! Es geht um das verfickte Telefon meines Nachbarn! Ich stutze, huste einmal kurz und lache dann leise.

„Das Telefon meines Nachbarn hat mir diese ganze Scheiße eingebrockt?“, denke ich laut. Ein scheiß Telefon hat meinen Nachbarn umgebracht und wird mich ebenfalls jede Sekunde umbringen, weil die verkohlten Überreste eben dieses Telefons ausgerechnet in einem Star Trek Voyager-Mülleimer mit Captain Janeway drauf in meiner Wohnung liegen. Ha!

Hinter dem Glatzköpfigen explodiert etwas großes und ein Feuerpilz steigt langsam, wie in Zeitlupe auf, als befänden wir uns alle in einem Michael Bay Film.

„Wow!“, sage ich, schaue dann weiter nach oben und kann jetzt deutlich die brennende Textur dieses … Dings erkennen. Die Temperatur steigt deutlich ins unangenehm heiße.

Plötzlich reisst sie mir den Arm zurück.

Wieder zieht ein Schmerz einmal durch meinen ganzen Körper. Ich wünsche mir so sehr, dass sie das lassen würde.

Sie aber greift entschlossen in meine Jackentaschen, wühlt aufgeregt darin herum, zieht mein altes iPhone hervor und hält es hoch in die Luft.

Sie brüllt etwas, während sie sich nach vorne beugt, um noch lauter schreien zu können.

Eine weitere Explosion dicht hinter dem Glatzköpfigen zerreißt die Luft. Ein ohrenbetäubender Knall erzeugt eine abrupte Stille in meinem Kopf.

Die Zeit scheint still zu stehen. Sie steht neben mir, den einen Arm nach vorne gestreckt, den anderen weiter hinter ihr mit meinem iPhone in der Hand. Ein Fetzen Stoff, der wohl von einer der unzähligen Explosionen um uns herum aufgewirbelt wurde, hat sich um ihren Hals gewickelt und hängt hinter ihr in der Luft. Sie sieht plötzlich aus wie Straßenkunst aus der Dose Banksys und so ein wenig habe ich mich in diesem Moment so richtig in sie verliebt.

Ein stechender Kopfschmerz überfällt mich und die Zeit springt einige Sekunden in die Zukunft, wie ein Bildsuchlauf bei einer alten Videokassette, bevor alles wieder abrupt abbremst und verlangsamt weiterläuft.

Sie hat das Telefon in Richtung des Glatzköpfigen geschleudert. Es schwebt langsam durch die Luft und dreht sich dabei wunderbar hypnotisch um die eigene Achse.

In meinem Gesicht formt sich ein zufriedenes Lächeln. Schön, wie es sich so dreht, denke ich. Obwohl mein Arm immer noch ganz doll weh tut. Und mein Bein. Und alles andere. Wäre ich nicht wieder stocktaub von der letzten Explosion und würde sich mein Kopf nicht anfühlen, als hätte man mir ein Dutzend Nägel ins Gehirn gehämmert, würde ich mir jetzt ruhige Musik mit Streichern vorstellen. Dann muss ich daran denken, dass mein iPhone das wahrscheinlich nicht überlebt. Doof. Das war ja noch gut.

Es schwebt jetzt in Kopfhöhe an dem Glatzköpfigen vorbei.

Mit einem ausgestreckten Arm hechtet der langsam durch die Luft, wie ein Torwart, der sich nach dem Ball streckt.

Mein vier Jahre altes Telefon dreht sich weiter in Zeitlupe um die eigene Achse und sieht dabei immer noch gut aus.

Dann schlingt sich seine Hand elegant um das Gerät und die Zeit scheint erneut einfach so anzuhalten.

Ich blicke auf den Glatzköpfigen, der mit dem Telefon in der ausgestreckten Hand einfach so in der Luft liegt.

Neben mir, verharrt in ihrer Bewegung, nach dem Wurf leicht gebückt, wie ein Werfer beim Baseball, steht sie.

So surreal fühlt sich also ein Schock an, denke ich bei mir. Sehr surreal, aber auch ganz schön. Dann merke ich, dass der Feuerpilz hinter dem Glatzköpfigen gar nicht kleiner wird. Eher das Gegenteil ist der Fall. Witzig.

Jetzt leuchtet seine Glatze ungewöhnlich rot und die schwarze Jacke fängt an zu dampfen. Er fängt Feuer.

Oha.

Erst brennt sein Arm, dann beide Beine, dann sein Kopf, dann der andere Arm, dann mein Telefon und nur Sekunden später verschlingt das Feuer beide komplett.

Eine Druckwelle schleudert mich meterweit durch die Luft. Alles ist schwarz. Schön, denke ich bei mir. Rot kann ich langsam auch nicht mehr sehen.

Alles ist wieder rot. Na toll. Mein Körper schmerzt an Stellen, die ich nicht zuordnen kann. Mein Hals fühlt sich rau an. Er ist trocken und tut dermaßen höllisch weh, dass ich nicht wage zu husten. Ich würde jetzt aber echt gerne husten. Ich öffne vorsichtig die Augen, sehe schemenhaft Millionen kleiner Staubteilchen um mich herum durch die Luft wirbeln und erkenne unscharf, dass ich in einem Berg aus Dreck und Trümmern liege. Eine Hand berührt meinen Rücken, greift mir unter die Arme und reißt mich hoch. Ich habe das Gefühl in zwei oder drei Teile gerissen zu werden. Ich huste jetzt doch einmal sehr stark, während sie mich stützt. Meine Augen versuchen Dinge um mich herum zu fokussieren, aber es gelingt ihnen nicht. Vor meinen Füßen erkenne ich unscharf einen riesigen Krater, an dessen Rand wir stehen und zusammen in den Abgrund starren. „Du …“, ich huste erneut und habe das Gefühl, dass mein Hals dabei in Stücke gerissen wird. Alles schmeckt nach Blut und ich bekleckere mich damit, bei dem Versuch es auszuspucken. „Du hast mein iPhone weggeschmissen!“, sage ich gebrochen.

Sie guckt mich entsetzt an. Dann fangen wir beide an zu lachen. Mehr Blut tritt aus meinem Mund hervor. Ich muss mittlerweile unheimlich viel davon verloren haben. Ach egal. Mir fällt ein, dass ich doch eigentlich frisch verliebt bin. Was macht es da schon, wenn ich etwas Blut verloren habe? Über uns knistert es sogar ein bisschen in der Luft. Dann kracht und knirscht es. Ich blicke nach oben und sehe dieses rot glühende … Ding auf uns zukommen. Spätestens jetzt wären alle Streicher verstummt.

Alles, was ich noch im Stande bin zu tun, ist einen sehr großen Seufzer auszustoßen. Dann merke ich plötzlich, dass meine Nase wieder frei ist. Ich atme tief durch und möchte ihre Hand fest drücken. Aber ihre Hand ist nicht da. Ich fahre herum und fühle eine eisige Kälte, als mir bewusst wird, dass ich alleine auf dem zerstörten Bahnhofsplatz stehe. Eisige Kälte, obwohl mir, mit diesem … Ding da oben ja eigentlich verdammt heiß sein sollte. Dann fühle ich mich plötzlich sehr einsam. Ich weine.

Jetzt sollte eigentlich mein Leben an meinem inneren Auge im Zeitraffer vorbeiziehen, aber ich sehe bloß noch einmal den echten Omar Sharif auf seinem Fahrrad an mir vorbeifahren. So eine Scheiße!

Ich vergieße noch ein paar weitere Tränen, bevor die Welt um mich herum ein letztes Mal schwarz wird und untergeht.

Doof, denke ich.

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