Drei

Vor einer Videothek im Stadtteil Hannover Vahrenwald steht ein älterer, in schwarz gekleideter, glatzköpfiger Mann und schaut ziemlich grimmig drein. Er trägt militärische Montur und es wirkt, als wäre er soeben links neben sich aus dem Expendables-Plakat gestiegen. Ein vorbeikommendes Pärchen sieht das genauso und kichert hinter vorgehaltenen Händen. Der Glatzköpfige schaut ruckartig zu den beiden Frauen hinüber und verharrt bedrohlich in seiner Bewegung. Sie erschrecken sich und beschleunigen ihren Schritt. Er schaut ihnen noch einige Sekunden hinterher, bevor er wieder den Hauseingang auf der anderen Seite der Straße beobachtet. Dabei kaut er etwas, bevor er Reste davon ziemlich unflätig auf den Gehweg spuckt. Eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben rollt im Schritttempo die Straße entlang und kommt direkt vor dem Mann sanft zum Stehen.


Wir wollen gerade die Straße überqueren, als eine schwarze Limousine im Schritttempo die Straße entlang rollt und direkt vor uns sanft zum Stehen kommt.

Ich versuche mit einem spontan aufgezogenen leeren Blick das Innere des Wagens auszumachen. Aber da ist alles bloß schwarz. Schwarzer Wagen, schwarze Scheibe, schwarze Sterne. Schwarze Sterne? Noch bevor ich mich so richtig über die Sterne wundern kann, gleitet mein Körper, motiviert von einem sehr starken Schmerz an meinem Hinterkopf in eine handfeste Ohnmacht.

Wenn ich träume, träume ich richtig krassen Scheiß. Ich verarbeite diverse Erfahrungen des Tages zu neuen, in sich nicht immer ganz schlüssigen Traumsequenzen. Oft sind die so unglaublich bescheuert und stressig, dass ich ziemlich unruhig schlafe und irgendwann genervt davon aufwache. Dann bin ich meistens so kaputt, dass es mir vorkommt, als hätte ich gar nicht geschlafen. Das ist doof, weil ich dann ziemlich schlechte Laune habe. So schlechte Laune, dass ich mich dann selbst verabscheue. Deshalb analysiere ich jeden Morgen nach dem Aufwachen und noch vor dem Öffnen meiner Augen, ob ich wieder geträumt habe und wenn ja, ob es nicht vielleicht besser wäre, einfach noch einmal einzuschlafen. Eine dem eigenen Wohlbefinden sehr zuträgliche Methode, aber auch ein echter Dorn im Auge vieler Arbeitgeber.

Ich wache auf und checke also erst einmal die Traumlage. Glück gehabt! Ich habe nicht geträumt. Dummerweise schmerzt mir der Schädel so unbeschreiblich stark, dass ich trotzdem richtig scheiße drauf bin. Ich öffne die Augen und erkenne schemenhaft einen kleinen, schwarzen Raum mit schwarzer Einrichtung und einer roten Decke. Wo bin ich? Mein Nacken fühlt sich feucht an. Ich taste mit meiner Hand hinter meinen Kopf und fasse in etwas Klebriges, das, als ich mir die Hand prüfend unter die Nase halte, irgendwie metallisch riecht. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das Licht im Raum. Vor mir sitzt jemand. Eine Frau. Sie trägt einen schwarzen Anzug und darunter eine weiße Bluse, die zu ihren schneeweißen, mittellangen Haaren passt. Ich muss an eine Hexe denken. Im orangefarbenen Licht wirkt ihr Haar wie die billige Perücke einer Prostituierten in diesem einen Film mit Julia Roberts. Sie lächelt freundlich durch eine dick gerahmte Brille hindurch. Die Falten um ihre Augen verraten, dass sie älter ist, als ihr sportlicher Körperbau vermuten lässt. Neben ihr sitzt ein glatzköpfiger Mann, der aussieht, als hätte ihn Sylvester Stallone für den nächsten Expendables-Film verpflichtet. Er hält eine Pistole in der Hand und beäugt mich, als wolle er mir jeden Moment an den Hals springen.

„Ich hätte ihn gleich erschießen sollen“, bemerkt er abfällig, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Die Pistole zeigt mir jetzt direkt ins Gesicht. Die Hexe schiebt sie am ausgestreckten Arm des Glatzköpfigen nach unten und aus meinem Gesicht heraus. „Du erschießt ihn erst, wenn ich es dir sage“.

Das beruhigt mich nur teilweise.

Ihr Blick ist für eine Sekunde eiskalt, bevor sie mich wieder freundlich anlächelt.

„Wer … wer sind Sie?“, stammele ich und bemerke erst jetzt, dass wir in einem Auto sitzen. Bestimmt die schwarze Limousine. Wir stehen. Draußen kann ich dunkel Hannover erkennen. Es ist nicht besonders hübsch. Ich starre in meine Hand, die vom Blut an meinem Hinterkopf verklebt ist.

Sie schaut erst auf das Blut und dann auf mich. „Bitte entschuldige sein brutales Vorgehen“, sagt sie. Ihr Kopf knickt leicht zur Seite, als würde sie mit einem Kind oder einem Hund reden. „Wenn man ihn nicht an der kurzen Leine hält, beißt er alles und jeden.“

Ich nicke und finde mich dafür ein bisschen doof. „Wer … wer sind Sie? Was … wollen Sie?“, frage ich sichtlich eingeschüchtert.

Die Hexe kippt den Kopf leicht zur anderen Seite. „Glaubst du an Karma?“, fragt sie.

Ich starre sie an und kann bloß „Was?“ sagen.

Sie zeigt nach oben. „Ich glaube, dass das da oben, dieses … Ding, mein Karma ist. Glaubst du an Karma?“

Ich runzle die Stirn und denke zu meiner eigenen Überraschung ernsthaft über diese Frage nach. Ich muss daran denken, dass ich dazu eine Expertenrunde im Fernsehen gesehen habe, die übernatürliche Kräfte nicht ganz ausgeschlossen hat. Oder war das die Theorie mit dem Fehler im Maya-Kalender? Hm. Ich habe nie richtig über irgendeine höhere Macht nachgedacht und so richtig Lust, jetzt damit anzufangen, habe ich auch nicht. Aber neugierig bin ich jetzt schon. „Was … was hat denn das Karma gegen sie?“, frage ich und blicke der Hexe erwartungsvoll in die Augen. Irgendetwas schlüssiges wäre jetzt schön, denke ich.

Sie lächelt. „Geld, Geld, Geld und noch mehr Geld. Man bekommt nicht genug davon, weißt du?“

Ich nicke bedächtig, denke dann darüber nach und schüttele den Kopf. Ich muss an eine frische Tube Nasenspray denken. Mein Nacken schmerzt und ich merke, wie kalter Schweiß auf meiner Stirn entsteht.

Sie räuspert sich und ihre Hand gleitet auf mein eines Knie.

Ich zucke zusammen, woraufhin sie anfängt das Knie zu streicheln. Ich sehe, wie der Glatzköpfige die Augen verdreht.

Er wirft den Kopf genervt in den Nacken und richtet den Blick durch das verdunkelte Fenster nach draußen auf die Straße.

Erst jetzt bemerke ich die Musik im Inneren des Wagens: Phil Collins singt „In The Air Tonight“. Ich überlege was eigentlich schlimmer ist? Zu Phil Collins von einem glatzköpfigen Sadisten erschossen zu werden oder zu Phil Collins mit einer Hexe schlafen zu müssen. Oder beides und nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. Zu Phil Collins!

Ihr Griff an meinem Knie wird stärker.

„Du hast etwas, was mir gehört. Und für den Fall, dass das da oben nicht mein Karma ist und lediglich ein paar tausend unwichtige Menschenleben kosten wird, hätte ich es jetzt gerne wieder zurück. Wenn du es mir gegeben hast, sprechen wir über deinen Preis.“ Ihre Stimme klingt sehr einfühlsam. Sie lehnt sich langsam vor und blickt mir tief in die Augen. „Gib es mir einfach, bevor ich ihm sage, dass er deine Finger abschneiden soll. Einen nach dem anderen. Ganz langsam. Wir beide hier haben wirklich viel zu verlieren, weißt du?“ Ihr Finger wandert verspielt zwischen ihr und dem glatzköpfigen Rottweiler hin und her.

Es gelingt mir nicht, irgendeinen weiteren klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf schmerzt. Ich kann bloß noch stammeln. „Wa-was denn geben?“ Der Schweiß auf meiner Stirn bildet erste Pfützen in Falten und Grübchen.

Die Hexe lehnt sich zurück und holt tief Luft durch die Nase. Dann zeigt sie mit dem Finger an die rote Decke. „Die Nobunaga-Dateien. Komm schon, es wird da draußen etwas unbequem.“

Nobu-was!?, denke ich.

Sie verdreht ihren Hals, ohne den Blick von mir abzuwenden, während ihre Hand an meinem Oberschenkel aufwärts wandert. „Komm schon, gib sie mir!“

Meinen Körper in die Rückbank gepresst, starre ich auf ihre Hand vor meinem Gesicht die sich wie eine Blüte ganz langsam öffnet.

Mir ist schlecht. „Nobu-wer?“, stammele ich nochmal.

Ihre Finger machen jetzt eine fordernde Bewegung.

Ich glaube, ich habe eine Gehirnerschütterung.

Etwas Kaltes berührt meine linke Schläfe. Ich drehe mich vorsichtig nach links und blicke an der Pistole vorbei in das Gesicht des Glatzköpfigen, der ausschaut, als würde er mich jetzt gerne anspringen und einfach so zerfleischen.

Ich öffne den Mund, um irgendwas zu sagen, als mich das schwere Gehäuse der Waffe wuchtig an der Schläfe trifft und diese daraufhin vor Schmerzen explodiert. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Die Hexe, ihre Hand und die rote Decke. Alles scheint nur noch unscharf im Raum zu schweben. Ich muss würgen und kotze gleich darauf ein gutes Dutzend halbverdaute Krapfen vor mir in das Wageninnere.

Ich huste noch ein paar letzte Stückchen von Irgendwas auf meine Schuhe und wische mir dann mit dem Handrücken den Mund sauber. „Ah“, sage ich, angeekelt von mir selbst. Dann halte ich inne und den Atem an.

Vor mir sitzen die Hexe und der Glatzköpfige, beide von oben bis unten vollgekotzt. Von mir vollgekotzt. Phil Collins holt noch einmal tief Luft, um nach dem Trommelwirbel wieder so richtig einzusteigen, als der Glatzköpfige aufspringt, mir den Pistolenlauf unsanft und erschreckend tief in den Mund rammt und ich seine gebleckten Zähne dicht an meinem Gesicht aufblitzen sehe. Ich kann Reste von meinen Krapfen erkennen.

In diesem Moment ertönt ein ohrenbetäubender Krach. Über uns reißt die Decke der Limousine auf und rotes, blendendes Licht strömt herein, als sich eine riesige, glänzende Klinge in das Wageninnere bohrt und mitten durch die von mir vollgekotzte Hexe fährt.

Der Lauf der Waffe verlässt hastig meinen Mund.

Es ist plötzlich sehr still geworden. Auch Phil Collins hat aufgehört zu singen, was prinzipiell ja schon mal eine Verbesserung ist. Die gesamte Limousine scheint verbogen zu sein. Die Scheiben sind allesamt zerborsten und die von der riesigen Klinge zerteilte Hexe hat der Inneneinrichtung auf ihrer Seite des Wagens einen verschmierten Anstrich verpasst. Es riecht nicht gut und ich zittere am ganzen Körper. Die Tür links von mir ist offen, aber ich schaffe es nicht mich dorthin zu bewegen. Wo ist der Glatzköpfige? Ich suche das Wageninnere mit halbzugekniffenen Augen ab und versuche dabei nicht zu viel von der toten Hexe zu sehen. Es gelingt mir nicht. Ich möchte schreien, doch mir fehlt die Kraft. Ich überlege, mal so richtig loszuheulen. Oder noch mal zu kotzen. Ich kann aber bloß würgen. Dann werfe ich mich mit letzter Kraft gegen die Tür und falle mit ihr hinaus auf die Straße.

Mit dem Rücken auf dem Gehweg liegend, spüre ich, wie sich Glasreste in mich hineinbohren und es mir scheißegal ist. Ich schließe die Augen und freue mich einfach nur zu liegen. Gerade will ich mich fragen, wo sie eigentlich die ganze Zeit über steckt, als ihre Hand nach mir greift und mir hoch hilft. Es scheint ihr gut zu gehen. Ich merke, wie ich mich freue, sie zu sehen. Aber sie hetzt mich bloß. Dann fällt mir der Glatzköpfige wieder ein. Ich drehe mich ruckartig um und blicke auf den völlig zerstörten Wagen, der unter so etwas wie einem Satelliten eingeklemmt ist. Eines der Sonnensegel steckt in der Limousine. Und in der Hexe. Ich blicke nach oben in den brennenden Himmel. Dann kugelt sie mir plötzlich fast die Schulter aus, als sie mich ruckartig in Richtung der Straßenbahnhaltestelle zieht. Wir laufen los. Oder besser: Sie läuft. Mein Kopf schmerzt so dermaßen, dass ich mich bloß hilflos an einem Arm hinterher ziehen lassen kann. Ich würde jetzt doch gerne noch einmal richtig kotzen.


Wir springen in den letzten Wagen der Stadtbahn. Ich will bloß noch weg hier. Weg von der Limousine. Weg von der Wohnung meines Nachbarn. Und weg vom toten Nachbarn. Erstmal nur weg. Als die Bahn die oberirdische Strecke verlässt und in den Tunnel unter die Stadt taucht, wechselt sich das rote Licht der Umgebung mit dem vergilbten Licht der Innenbeleuchtung ab. Mir fällt auf, dass diese Tunnel einige der wenigen Plätze sind, wo nicht von irgendwoher das rote Licht dieses … Dings hinein scheint. Ich merke, wie mich das etwas entspannt … um gleich darauf wieder angespannt zu sein. Ich fühle mich eingesperrt. Diese Enge der überfüllten Bahn, voll mit Menschen, die sich vielleicht ebenfalls nach einem Platz ohne das rote Licht gesehnt haben. Ich blicke nervös um mich. Zombies. Überall Zombies. Dazwischen sitzen oder stehen Missionare für irgendeinen Gott mit Schildern auf denen Dinge wie „Jesus rettet“ oder „Gott hat seine Gründe“ stehen. Offensichtlich ist man sich auch da noch nicht so ganz einig, wie die Situation denn nun ausgehen wird. Am anderen Ende des Wagens steht eine junge Frau mit einem schwarzen Tanktop, auf dem oben ein Teil eines flammenden Meteors aufgedruckt ist. Darunter steht in weißer Schrift „Goodbye, my love!“. Ich befinde mich wohl in bester Gesellschaft für eine ordentliche Panikattacke, beruhige mich aber mit dem Gedanken an die Pistole, die ich zu meiner eigenen Sicherheit von Omar Sharif auf dem Spielplatz gekauft habe. Dann bemerke ich, dass ich sie zuhause in der Schublade mit der Unterwäsche habe liegen lassen. Anton Tschechow dreht sich in seinem Grab vermutlich gerade wie ein Kreisel um die eigene Achse. Na toll.

Sie sagt die ganze Zeit nichts. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass sich unsere Beziehung jetzt wieder auf dem Weg der Besserung befindet. Ich krame mein vier Jahre altes iPhone hervor, weiß dann aber nicht so recht, wonach ich darauf gucken soll. Also starre ich schlicht geradeaus durch den Wagen und zähle mal langsam so bis zehn. Ich komme lediglich bis zur Drei, denn … am anderen Ende des Ganges steht der glatzköpfige Rottweiler und kommt jetzt langsam aber sicher, Schritt für Schritt, auf uns zu. Mein ganzer Körper ist plötzlich fest angespannt. Ich blicke nervös um mich. Wir befinden uns bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof, als er plötzlich inne hält, mich regungslos anblickt, mit der rechten Hand eine Haltestange fest umklammert und mit der Linken, ohne den Blick von mir abzuwenden, den Nothalt betätigt.

Ich falle.


Ich vernehme irgendwo in der Ferne ein leises Klingeln. Es klingt wie eines dieser wunderschönen Holzwindspiele, die auf Balkonen hängen und angenehm leise in verschiedenen Tonlagen klimpern, wenn der Wind durch sie hindurchweht. Kling, Klang. Kling, Klang, Klong. Ich versuche auszumachen, aus welcher Richtung das Geräusch kommt, aber es gelingt mir nicht. Stattdessen höre ich irgendwo eine Drossel zwitschern. Schön, denke ich bei mir und suche den Singvogel. Ich bemerke, dass ich auf einer gemütliche Bank neben einem Starbucks-Kaffeebecher sitze, sehe aber weit und breit die kleine Drossel nicht. Doch, da … nein, Moment. Ich höre jetzt eine Krähe! Lauter und auch irgendwie etwas stressiger. Jetzt hätte ich doch gerne die Drossel wieder. Da! Es klingelt wieder! Aber Moment, es ist viel lauter als vorher. Ich wundere mich sehr über das Geräusch, als Omar Sharif, der echte, mit einem Fahrrad vorbei radelt und wie wild mit seiner Fahrradklingel Lärm macht. Ich blicke ihm verdutzt hinterher. Ist der nicht schon lange tot?, denke ich hei mir. Und hatte er gerade wirklich eine Uniform aus dieser einen Science-Fiction-Serie an? Krass. Erst jetzt bemerke ich vor mir das Meer. Ein dicker Seehund bellt lauter als die Klingel des Fahrrads und klatscht sich dabei mit den Vorderflossen selbst Beifall. Jetzt wundere ich mich ja schon ein wenig über all das hier, als plötzlich das Seehundbellen von einer Autohupe, irgendwo hinter mir, übertönt wird. Ich erschrecke stark und will dem Fahrer der schwarzen Limousine, der eine erschreckende Ähnlichkeit zu Phil Collins aufweist, den Finger zeigen, als sich vor mir von links ein riesiges Containerschiff mit der Aufschrift „Nobunaga“ in mein Sichtfeld drängt. Sein abartig lautes Nebelhorn übertönt alle anderen Geräusche und weckt mich aus der Sekunden-Ohnmacht.


Das Quietschen der Bremsen ist so laut, dass meine Ohren taub sind und fiepen. Ein Koffer ist hinter mir gegen meine Wade geflogen. Es schmerzt unglaublich. Ich suche nach ihr und sehe auch den Glatzköpfigen nicht mehr. Die Türen öffnen sich und Menschen stürmen panisch aus der Bahn, hinein in den Bahnhof. Ich werde drei-, viermal hart an den Schultern angerempelt, während ich versuche, mich gegen den Menschenstrom zu ihr durchzuschlagen. Wo zur Hölle ist der Glatzköpfige, der den Nothalt betätigt hatte?, denke ich, als mir jemand einen kräftigen Schlag an den rechten Oberschenkel versetzt. Ich blicke verwundert nach unten und sehe Blut an meiner Hose. Ein Mann meines Alters im grauen Business-Anzug schaut verblüfft zuerst auf mein Bein, dann auf mich. Dann dreht er sich einmal fast um die eigene Achse und fällt schreiend um. Auch er blutet. Entsetzt blicke ich nach vorne in die Bahn. Der Glatzköpfige steht mit ausgestrecktem Arm und seiner Waffe in der Hand da, setzt sich in Bewegung und kommt jetzt entschlossen auf mich zu. Er schießt. Ich höre nichts. Er trifft mich nicht nochmal, ich fange an zu zittern und möchte schreien, als mich von links zwei Hände packen und ich aus der Bahn auf den Bahnsteig gezogen werde. Sie zieht mich hoch, stützt mich ab und rennt mit mir ins Bahnhofsinnere. Ich weiß nicht, wie mir geschieht und als ich eine leise Ahnung davon bekomme, setzt der beißende Schmerz ein und erneut überkommt mich unfassbar große Panik. Die Wunde in meinem Bein brennt bei jedem Schritt wie Feuer. Ich schreie und sie flucht, als sie mich mit aller Kraft die Rolltreppe hoch nach draußen treibt.

Oben angekommen breche ich zusammen und übergebe mich erneut. Dieses mal auf meine Hose, die Schuhe und den Bahnhof. Fuck, denke ich, „SCHEISSE!“, schreie ich.

Die Situation ist ernst, sagt sie. Ich weiß! Natürlich ist die Situation ernst. Ich habe eine scheiß Kugel im Bein! Plötzlich laufe ich wieder. Der Schmerz ist nach wie vor da, aber irgendwo auf einer Ebene, die meinem Gehirn gerade echt egal ist. Wir laufen nach draußen bis zum großen Bahnhofsvorplatz, als wir abrupt stehenbleiben und über uns in die Luft starren. Dieses … Ding ist jetzt irgendwie verdammt dicht über uns. Ein extrem lautes Knirschen lässt uns beide nach rechts herumfahren, wo in diesem Moment die Spitze des Fernsehturms an dem riesigen Feuerball wie ein morscher Ast abknickt und brennend in sich zusammen fällt. Entsetzt sehen wir mit an, wie der Busbahnhof und ein Einkaufszentrum von den Trümmern begraben werden. Es ist dermaßen laut, dass meine Ohren, die sich gerade wieder so ein bisschen erholt haben, schlagartig wieder taub sind. Ich schaue mich um, ob in unserer Nähe weitere Gebäude drohen auf uns einzustürzen, als ich weiter vorne an einem Treppenaufgang wieder den Glatzköpfigen stehen sehe. Auch er starrt kurzatmig dort rüber, wo vor fünf Minuten noch ein Busbahnhof stand, dreht dann aber den Kopf in unsere Richtung und schaut uns extrem schlecht gelaunt an.

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